Kein Mensch auf der ganzen Welt
kann die Wahrheit verändern.
Man kann sie nur suchen
sie finden und ihr dienen.
Die Wahrheit ist an jedem Ort.

Dietrich Bonhoeffer

Das Urteil

(November 2007)

Zweieinhalb Jahre nach Aufkommen der Vorwürfe und anderthalb Jahre nach Einleitung des Verfahrens findet am 30. Oktober 2007 endlich die Verhandlung gegen meinen Sohn vor dem Truppendienstgericht Nord statt. Das Urteil lautet: Drei Jahre Beförderungsverbot.

Als er mir dies telephonisch mitteilt, muss ich ihn zweimal um Wiederholung bitten, bis er es mir ins Ohr schreit. Ich hatte es einfach nicht glauben können. Auf meine jahrzehntelange Expertise als Disziplinarvorgesetzter und Einleitungsbehörde kann ich mich seit Beginn des Falles Dieter/Ruwe/Ruwe-Sohn offenbar nicht mehr verlassen. Meine Prognosen lagen schon mehrfach daneben. Es kommt hier etwas viel zusammen. Dabei hätte mich eine Insiderinformation, die ich schon vor Wochen erhalten hatte, eigentlich nachdenklich stimmen müssen. Angesichts der Faktenlage konnte ich mir dennoch nichts Anderes als einen Freispruch für meinen Sohn vorstellen.

Nun ist Urteilsschelte nicht besonders populär in einem Staat, der sich als Rechtsstaat bezeichnet. Deshalb werde ich auch nicht sagen, ich hielte das Urteil für einen Skandal. Aber es muss erlaubt sein, auf ein paar Fakten hinzuweisen. Mehrere Wehrjuristen haben mir auf Nachfrage erklärt, dass es bei einem Vorwurf, wie er im Fall meines Sohnes erhoben wird, ein ähnliches Urteil in den 50 Jahren, seitdem die Wehrjustiz der Bundeswehr besteht, ihrer Kenntnis nach noch nicht gegeben habe. Was wird ihm vorgeworfen?

In der Verhandlung wurde zunächst einmal eindeutig festgestellt, was schon vorher von der Wehrdisziplinaranwaltschaft eingeräumt worden war: Mein Sohn hat nicht einen Hauch an Sympathie für rechtsextremistisches Gedankengut. Auch alle Vorwürfe, er habe den Nazi-Gruß verwendet, haben sich als haltlos erwiesen und wurden fallen gelassen.

Nahezu alle Zeugen konnten bestätigen, dass die inkriminierte Äußerung, die seine rechtsextremistische Gesinnung vor allem belegen sollte, in einer Diskussion über die Nazi-Zeit gefallen ist, in der sich mein Sohn gegen die Behauptung gewandt hat, alle Anwesenden hätten vermutlich damals mitgemacht. Das von ihm verwendete Zitat hatte den erkennbaren Zweck, gerade den verbrecherischen Unrechtscharakter des Nazi-Regimes drastisch zu verdeutlichen. Eine Aussage, die einen anderen Zusammenhang behauptet, steht im Widerspruch zu anderen Zeugen.

Ein Beispiel aus Alexander Solschenizyns Archipel Gulag, das mein Sohn - unter Hinweis auf diese Quelle – benutzt hatte, um aufzuzeigen, wozu Menschen fähig seien, wenn man Folter in bestimmten Fällen erlaube, wird als ein weiterer Beweis krankhafter Gewaltphantasien gewertet. Im übrigen sei es Ausdruck seiner charakterlichen Fehlbildung, seine überlegene Intelligenz und Bildung durch die Bezugnahme auf solche Literatur arrogant gegenüber Kameraden heraushängen und diese so als dumm und ungebildet dastehen zu lassen.

Selbst angebliche Belastungszeugen bestätigen, dass eine scherzhafte Bemerkung zu „Führers Geburtstag“ bei den Beteiligten zu Gelächter geführt habe.

Alle inkriminierten Äußerungen – bis auf eine – sind in dem privaten Umfeld der studentischen Wohngruppe meines Sohnes an der Hochschule der Bundeswehr gemacht worden – also vor Leuten, die ihn und seine klaren grundsätzlichen Auffassungen seit Monaten kannten und wohl kaum missdeuten konnten. Dennoch wirft das Gericht meinem Sohn vor, er habe durch seine Äußerungen bei Dritten den Eindruck erwecken können und bei einigen tatsächlich erweckt, er unterstütze rechtsextremistisches Gedankengut und verherrliche Gewalt. Dabei hat das Gericht nicht hellhörig gemacht, dass die inkriminierten Äußerungen von seinen "Kontrahenten" vorgebracht wurden – und dies auch erst nach Monaten, als sie selbst unter Beschuss geraten waren.

Diejenige Äußerung, die nicht im privaten Umfeld der Wohngruppe fiel, wurde von mir bereits im ersten Teil der „Denkwürdigen Erlebnisse“ (Absatz 8) beschrieben. Mein Sohn hatte in einer Vorlesung bei der Diskussion des Motivationsfaktors „Begeisterung“ kritisch angemerkt, dass Begeisterung auch zu Verblendung führen könne. Als Beispiel dafür nannte er die SA – nicht ohne auf deren verbrecherischen Charakter hinzuweisen. Auch dies wurde als Dienstvergehen bewertet.

Weder die eindeutigen Beurteilungen meines Sohnes aus der Truppe und von der Offizierschule („sein Auftreten ist von hohem Verantwortungsbewusstsein und vorbildlichem beruflichen Selbstverständnis geprägt“ sowie „charakterlich und von seiner Einstellung zum Beruf ohne jeden Tadel“) noch seine guten Studienergebnisse scheinen das Gericht beeinflusst zu haben. Auch die Tatsache, dass er nach schlimmen lebensbedrohenden Unfallverletzungen mit starkem Willen quasi ohne Zeitverzug das Studium wieder aufgenommen hatte, sowie seine Berufung als studentischer Vertreter in zwei Kommissionen für die Nachbesetzung von Lehrstühlen an der Universität fanden wenig Beachtung. Das Gericht wollte sich wohl von der vorgegebenen Zielsetzung nicht abbringen lassen. Da störten solche Feststellungen nur.

Die unvertretbare Dauer des Verfahrens und die rechtswidrige Einweisung in die Psychiatrie zur Feststellung seiner Vernehmungs- und Verhandlungsfähigkeit durch den Inspekteur der Streitkräftebasis (s. „Denkwürdige Erlebnisse“ Teil II) wurden angeblich strafmildernd berücksichtigt!

Über dem mehr als zweijährigen Verfahren ist in Vergessenheit geraten, wodurch es eigentlich angestoßen wurde: Auslöser war eine Wehrbeschwerde meines Sohnes im Mai 2005, in der er sich gegen persönliches Mobbing, aber auch gegen schlimme personenbezogene frauen- und ausländerfeindliche Äußerungen eines Kameraden gewandt hatte. Auf diese Beschwerde hat er bis heute keinen Bescheid. Die Message dieses Verfahrens ist klar: Wegducken und Klappe halten!

Für das Urteil habe ich mich – als ehemaliger höherer Verantwortungsträger - im Namen der Bundeswehr bei meinem Sohn zu entschuldigen versucht. Erfolglos - das kann ich verstehen. An einer Institution, die solche Fälle hinnimmt, stimmt etwas nicht. „Der Fisch fängt am Kopf zu stinken an“, hat 1992 General Naumann in der Kommandeurtagung der Bundeswehr in Leipzig festgestellt. Was als Hautgout begann, ist inzwischen von solcher Intensität, dass man sich nur wundern kann, wie viele dies nicht bemerken (wollen).

Die Wahrheit zu finden, ist nicht immer leicht. Die Fakten im beschriebenen Fall sind im wesentlichen unstrittig. Wie man über deren Bewertung innerhalb einer Institution, die ich fast vierzig Jahre lang an wichtigen Stellen von innen erlebt und mitgeprägt habe, derart unterschiedlicher Auffassung sein kann, ist für mich ein Rätsel.

Das Bonhoefferzitat im Kopf dieser Website soll Programm sein. Einen starken Glauben braucht es allerdings schon zu jener Überzeugung.


Die Berufung:

(November 2008)

Fast 1 Jahr nach der Verhandlung beim Truppendienstgericht Nord (entspricht das eigentlich dem Beschleunigungsgebot der Wehrdisziplinarordnung?) wird die Berufung beim 2. Wehrdienstsenat des Bundesverwaltungsgerichts in Leipzig verhandelt. Der Vorsitzende Richter Golze ist derselbe, der die Beschwerden meines Sohnes wegen Verfahrensverschleppung und wegen der rechtswidrigen Einweisung in die Psychiatrie als unzulässig zurückgewiesen hatte. Er hatte auch den Vorsitz in den Antragsverfahren der Generalleutnante a.D. Dieter und Ruwe, in denen der Senat ohne mündliche Verhandlung und ohne militärische Beisitzer zu der Auffassung gelangt war, ihr Verhalten stelle ein Dienstvergehen dar. Über den juristischen Nachhilfeunterricht zu dieser Bewertung und den Vorwurf der Inkompetenz in meiner Verfassungsbeschwerde war er vermutlich hoch beglückt. Aber Richter gehen natürlich dennoch stets unvoreingenommen an einen Fall heran.

Die Verhandlung entpuppte sich in der Tat als „großer Erfolg“ für meinen Sohn. Von den oben genannten Vorwürfen wurden diejenigen, für die ich ihm anderenfalls eine Verfassungsbeschwerde angeraten hätte („Begeisterung als Motivationsfaktor“ und das Beispiel aus Alexander Soschenizyns Archipel Gulag) ohne viel Aufhebens fallen gelassen. Bei den übrigen Vorwürfen bestätigte der Senat jedoch die Auffassung des Truppendienstgerichts, dass es gar nicht darauf ankomme, wie die Aussagen gemeint gewesen seinen und ob Kameraden die Äußerungen meines Sohnes seinerzeit tatsächlich falsch verstanden hätten. Äußerungen, die grundsätzlich geeignet seien, missverstanden zu werden, stellten bereits ein Dienstvergehen dar! Und verschärfend wirke zudem, wenn Untergebene (hier ein Mitstudent im Dienstgrad eines Oberfähnrichs!) anwesend seien.
Die genannte Rechtsauffassung schlägt zwar dem gesunden Menschenverstand ins Gesicht und übertrifft alle Absonderlichkeiten, die ich in vierzig Dienstjahren mit der Wehrjustiz erlebt habe, aber nunmehr ist sie Recht – Disziplinarrecht.

Immerhin verkürzte der Senat das Beförderungsverbot geradezu dramatisch von 3 Jahren auf 2,5 Jahre. Tatsächlich führt diese Verkürzung des Beförderungsverbots allerdings zu einer Verlängerung. Die neue Maßnahme rechnet nämlich ab dem Tage, an dem sie rechtskräftig wird, also dem 23. Oktober 2008, während die angefochtene Maßnahme ab dem 30. Oktober 2007 gerechnet hätte. So wirkt sich das knappe Jahr, das sich das Bundesverwaltungsgericht mit der Berufung gelassen hat, automatisch als Verschärfung dieser Maßnahme aus.
Das ist zwar nicht gerecht, aber Recht – Disziplinarrecht.

Insgesamt erhöht sich damit der Verzug gegenüber dem Termin der Regelbeförderung (1. Januar 2007) auf 4 Jahre und 4 Monate. Damit ist er höher als die in § 60 Wehrdisziplinarordnung festgelegte Höchstdauer eines Beförderungsverbots von 4 Jahren. Mein Sohn muss dennoch froh sein; denn wenn er bereits bei der Aufnahme der disziplinaren Ermittlungen beförderungsfähig gewesen wäre, betrüge der tatsächliche Beförderungsverzug insgesamt fast 6 Jahre.
Das ist zwar keine Gerechtigkeit, aber Recht – Disziplinarrecht.

Angesichts solcher Entscheidungen sollte es sich jeder Offizier zweimal überlegen, was er sagt oder ob er überhaupt etwas sagen sollte. Es genügt möglicherweise, eine Meinung lediglich zu haben, man muss sie nicht auch noch äußern. Die Aufforderung des Herrn Bundespräsidenten zu mehr Zivilcourage, insbesondere was das Eintreten gegen Rechtsradikalismus angeht, muss im militärischen Bereich leider mit Vorsicht betrachtet werden. Ironie oder gar Sarkasmus sollte der Offizier bei all seinen Äußerungen scheuen, wie der Teufel das Weihwasser – selbst im Kameradenkreis. Ohnehin sollte er die Lehre beherzigen: Reden mag Silber sein, Schweigen ist Gold. Dann ist es auch nicht immer so laut in den Kasinos.

Darüber hinaus dient eine solche Rechtsauffassung im übrigen auch der Festigung der Kameradschaft. Denn schließlich wird man Kameraden dann stets besonders freundlich begegnen (müssen), wenn nicht auszuschließen ist, dass sie ansonsten eine Bemerkung jederzeit – also auch noch Monate danach – als missverständlich und daher inkriminierend apostrophieren und zur Meldung bringen könnten. Das stärkt das gegenseitige Vertrauen und den Zusammenhalt in der Truppe ungemein. Ein Bekannter, mit dem ich über diese Rechtsauffassung gesprochen habe, kommentierte sie spontan: „Die haben sie nicht mehr alle.“ Man sieht daran, dass sich unverständlicherweise mancher immer noch etwas schwer tut mit der beschriebenen Rechtsauffassung.

In merkwürdigem Gegensatz zur Rigorosität des Wehrdienstsenats bei der Bewertung mündlicher Äußerungen im Kameradenkreis stehen seine Beschlüsse, mit denen die Beschwerden meines Sohnes wegen Verfahrensverschleppung sowie wegen der rechtswidrigen Einweisung in die Psychiatrie als unzulässig zurückgewiesen wurden - unter demselben Vorsitzenden Richter Golze.
Im ersten Fall war das Gericht der Auffassung, Maßnahmen von Wehrdisziplinaranwälten entzögen sich dem Wehrbeschwerderecht (immerhin hat einer der Richter Zweifel, ob dies eigentlich „rechtspolitisch“ wünschenswert sei).
Im zweiten Fall sah das Gericht keinen Anlass, einen angefochtenen Beschwerdebescheid des BMVg rechtlich zu bewerten oder gar zu rügen, in dem meinem Sohn mitgeteilt wurde, seine Einweisung in die Psychiatrie sei in der Tat rechtswidrig gewesen und habe daher zu einem „anlassbezogenen Hinweis“ an den Inspekteur der Streitkräftebasis, Vizeadmiral Kühn, geführt, dieser habe dabei seine Befugnisse überschritten. Ich selbst halte eine rechtswidrige Einweisung in die Psychiatrie für eine Straftat und ein äußerst schwerwiegendes Dienstvergehen; der Bundesminister der Verteidigung hält sie offenkundig für eine Lappalie – jedenfalls keiner disziplinaren Untersuchung wert. Der Wehrbeauftragte des Deutschen Bundestages nimmt daran keinen Anstoß.
Das alles ist zwar nicht nachzuvollziehen, aber es soll Recht sein – Disziplinarrecht.

Grobe Ungerechtigkeit in einem solchen Ausmaß erlebt man vermutlich zwar nur, wenn man einen bestimmten Namen trägt. In abgeschwächter Form passiert Ähnliches leider aber nicht gerade selten. Das erhöht die Liebe der jungen Offiziere zur Bundeswehr und ihre Bereitschaft, dieser Institution freudig und dauerhaft zu dienen, ungemein. Macht aber nichts; denn wir haben ja qualifizierten Nachwuchs zuhauf.
Unter solchen rechtlichen Rahmenbedingungen wäre meine eigene Entscheidung, als ich vor mehr als 40 Jahren vor der Frage stand, diesem Land als Berufssoldat zu dienen, sicherlich anders ausgefallen.