Die denkwürdigen Erlebnisse eines jungen Offiziers - Auszug
(November 2007)
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Vier Wochen später kommt er auf der neurochirurgischen Intensivstation der Universitätsklinik Hamburg-Eppendorf langsam wieder zu Bewusstsein. Nach und nach erfährt er, dass er auf seiner Fahrt kurz vor Hamburg bei einem Verkehrsunfall ein schweres Schädel-/Hirntrauma erlitten und fast vier Wochen im künstlichen Koma gelegen hat. ...
Das Schlimmste sei überstanden, meinen die Ärzte. Die Genesung könne allerdings lange dauern; er müsse mit einem Jahr rechnen. ... Nach einer weiteren Woche wird er in eine Reha-Klinik in Bad-Godesberg verlegt. Dort will ihn der neue Inspekteur der Streitkräftebasis, der sich bereits mehrfach fürsorglich nach seinem Gesundheitszustand erkundigt hatte, besuchen, lässt dann aber überraschend durch sein Vorzimmer absagen. Der Leutnant ist etwas irritiert: „Die Initiative zu diesem Besuch ging doch von ihm aus.“ „Geh mal davon aus, dass ihm die Absage befohlen wurde“, meint sein Vater. Einige Tage später erhält der Leutnant von seinem Inspekteur ein Schreiben mit Genesungswünschen und ein Buchgeschenk.
Die Genesung schreitet deutlich schneller voran, als selbst die optimistischsten Prognosen angenommen hatten. Er will daher sein Studium schnell wieder aufnehmen. Der intensive Abschlusstest der Reha-Klinik bestätigt seine uneingeschränkte Studierfähigkeit. Am 20. September 2006 verlegt er wieder nach Hamburg. ...
Mitte Oktober 2006 wird dem Leutnant mitgeteilt, man müsse seinen Gesundheitszustand überprüfen. Es sei ja gar nicht sicher, dass er studierfähig sei. Das könne man nur im Rahmen einer mehrtägigen stationären Aufnahme im Bundeswehrkrankenhaus feststellen. Er weist auf die Empfehlung der Reha-Klinik hin, das Studium zeitnah wieder aufzunehmen. Dem sei er nachgekommen. Er habe zwar noch die eine oder andere körperliche Beeinträchtigung, aber den geistigen Herausforderungen sei er uneingeschränkt gewachsen. Er wolle jetzt nicht erneut wertvolle Studienzeit verlieren. Seine Einwände werden nicht akzeptiert, und er erhält den Auftrag, sich am nächsten Tag in der psychiatrisch-neurologischen Abteilung des Bundeswehrkrankenhauses zu melden. Er ist aufgebracht, aber sein Vater beruhigt ihn: „Der behandelnde Arzt wird schon beim Einführungsgespräch nach wenigen Minuten feststellen, dass Du intellektuell voll drauf bist, und Dich wieder an die Uni schicken.“
Am nächsten Morgen ruft der Leutnant seinen Vater aus dem Bundeswehrkrankenhaus an: „Ich habe früher auf Deine Prognosen immer viel gehalten. In meinem Fall liegst Du aber permanent daneben. Der Arzt hat mir mitgeteilt, dass er mich nicht nur auf Studierfähigkeit untersuchen müsse, sondern auf persönliche Anordnung des Inspekteurs der Streitkräftebasis auch auf ‚Vernehmungs- und Verhandlungsfähigkeit’. Dazu müsse ich mindestens sieben Tage in der stationären Aufnahme verbleiben. Ich habe gefragt, ob ich nicht wenigstens außerhalb der Behandlungszeiten an die Uni zurückkönne, um mein Studium weiter zu betreiben. Das ginge nicht, wurde mir gesagt, weil ich ‚rund um die Uhr auf psychische Ausfälle hin beobachtet werden müsse’. Schau Dir mal den § 88 der Wehrdisziplinarordnung an. Eine solche Untersuchung darf nur von einem Truppendienstgericht angeordnet werden.“ „Ich bin sprachlos“, antwortet sein Vater, „so etwas hätte ich in der Bundeswehr nicht für möglich gehalten. Was soll das?“ „Nachdem sie erst gehofft hatten, ich würde den Unfall nicht überleben, wollen sie mich jetzt wahrscheinlich für verrückt erklären lassen; dann haben sie kein Problem mehr mit meinem Verfahren.“ „Jetzt ist Schluss! Ich werde alle Hebel in Bewegung setzen, Dich da raus zu holen.“
Abends ruft sein Vater an: „Ich habe mit dem Inspekteur des Sanitätsdienstes telephoniert und ihn dringend gebeten, diese rechtswidrige Praxis unverzüglich zu beenden, da ich sonst an die Öffentlichkeit gehen würde. Er hat mir zugesagt, er werde sich persönlich darum kümmern. Der Sanitätsdienst werde sich jedenfalls nicht an rechtswidrigen Vorgängen beteiligen. Ich schätze ihn sehr. Du kannst sicher sein, dass er die Dinge in Ordnung bringt. Im übrigen: Bitte zeig Deine Betroffenheit Deiner Mutter nicht so deutlich; sie ist außer sich. Ich mache mir ernsthafte Sorgen.“ Nach zwei weiteren Tagen wird der Leutnant schließlich als uneingeschränkt studierfähig entlassen. Der behandelnde Arzt stellt darüber hinaus in seiner schriftlichen Begutachtung fest: Würde er danach gefragt, hielte er den Leutnant aus neurologischer und auch aus psychiatrischer Sicht für vernehmungs- und verhandlungsfähig.
Der Leutnant wartet einige Tage ab, ob ihm jemand für diesen Vorfall sein Bedauern ausspricht oder sich gar entschuldigt. Als dies nicht geschieht, legt er förmliche Beschwerde gegen den Inspekteur der Streitkräftebasis ein. Er wäre dankbar, wenn diese Beschwerde ausnahmsweise in der gesetzlich vorgeschriebenen Frist beschieden werden könne, bittet er abschließend höflich. Wider Erwarten erhält er diesmal einen Tag vor Ablauf der Monatsfrist tatsächlich einen Beschwerdebescheid - mit dem Kopf des Ministers, in Vertretung unterzeichnet durch den Staatssekretär für Rüstungsangelegenheiten. Seiner Beschwerde wird stattgegeben: Die Untersuchung auf Verhandlungs-, Vernehmungs- bzw. Befragungsfähigkeit sei rechtswidrig gewesen. In der Begründung wird allerdings der Vorgang als eine Petitesse abgetan: Die angeordnete zusätzliche Untersuchung sei quasi ein Abfallprodukt der Untersuchung auf Studierfähigkeit gewesen. Eine psychiatrische Begutachtung habe gar nicht stattgefunden. Der Inspekteur der Streitkräftebasis sei anlassbezogen darauf hingewiesen worden, dass er seine Befugnisse in diesem Fall überschritten habe.
„Ich lasse mich doch nicht vereimern“, sagt der Leutnant seinem Vater, „der Beschwerde ist nur scheinbar stattgegeben worden, damit man mir keine Rechtsbehelfsbelehrung geben musste. Meinem Anliegen ist doch nur zum geringen Teil entsprochen worden. Und ein bloßer Hinweis auf das Überschreiten der Befugnisse ist doch keine angemessene Maßnahme bei einem Vorgang, den ich als zutiefst entwürdigend empfinden musste und der mich – wenn auch nur für einige Tage - meiner Freiheit beraubt hat. Und wieso ist ein Staatssekretär für disziplinare Maßnahmen gegen einen Inspekteur und Stellvertreter des Generalinspekteurs zuständig, wenn der Minister im Dienst ist? Was ist da in Deinem Ministerium eigentlich los?“ „In meinem ehemaligen Ministerium, meinst Du sicherlich. Das weiß ich inzwischen auch nicht mehr. Was hast Du vor?“ „Ich werde auch in diesem Fall das Bundesverwaltungsgericht anrufen. Es muss doch in diesem Staat möglich sein, sein Recht zu bekommen.“
Wenig später hört er von seinem Vater, es gebe eine interessante zeitliche Korrelation: Seine Eidesstattliche Erklärung im väterlichen Antragsverfahren sei vom Bundesverwaltungsgericht am 12. Oktober 2006 dem Bundeswehrdisziplinaranwalt übermittelt und vermutlich am selben Tag von dort per Fax an das BMVg weitergeleitet worden. Der zusätzliche Untersuchungsauftrag für den Leutnant wurde am Montag, den 16. Oktober fernmündlich mit der Bitte erteilt, ein erstes Ergebnis bis Mittwochabend zu melden. „Das eine hat mit dem anderen natürlich überhaupt nichts zu tun?“, fragt der Leutnant ärgerlich. „Wo denkst Du hin, dafür gibt es doch nicht das geringste Indiz.“
Der Wehrbeauftragte hatte offenbar nicht mitbekommen, dass der Leutnant auch wegen der Einweisung in die Psychiatrie das Bundesverwaltungsgericht angerufen hatte, und teilte dem Petenten Mitte Januar 2007 mit, ihm liege nunmehr der Beschwerdebescheid des BMVg vor. Der Beschwerde sei ja im Grunde stattgegeben worden. Die getroffenen Maßnahmen halte er für angemessen und ausreichend. Er betrachte den Vorgang als abgeschlossen und bedanke sich für das Vertrauen, schreibt der Bearbeiter.
„Sind die noch bei Troste?“, fragt der Leutnant seinen Vater, „was redet der von Vertrauen? Wie soll ich Vertrauen in ein solches Amt haben?“ „Irgendwie sind da offenbar jemandem sämtliche Maßstäbe abhanden gekommen“, entgegnet der. „Als ich mit einem guten Bekannten, dem ehemaligen hochrangigen Wehrjuristen, darüber gesprochen habe, hatte es dem die Sprache verschlagen. ‚Sind Sie noch dran?’, habe ich ihn am Telephon gefragt. ‚Ja’, war seine Antwort, ‚aber mir ist der Unterkiefer heruntergefallen, und es hat ein wenig gedauert, ihn wieder zu schließen.’“