Warum das Heer „auf dem Zahnfleisch geht“ – ein kardinaler Fehler in der Struktur der Bundeswehr
(Februar 2008)
Die Zahl der auf dem Balkan und in Afghanistan eingesetzten deutschen Soldaten erscheint im Verhältnis zum Streitkräfteumfang relativ gering. Generalleutnant a.D. Dr. Olshausen hat kürzlich in einem Leserbrief in der FAZ darauf hingewiesen, dass Nationen wie die Niederlande oder Kanada proportional zu ihrer Bevölkerungszahl oder ihrer Streitkräftestärke weitaus mehr leisten als die Bundesrepublik. Dennoch ist die Belastung durch Auslandseinsätze für viele Soldaten des Heeres erheblich. Wie erklärt sich dieser scheinbare Widerspruch?
Die Stabilisierungskräfte der Bundeswehr haben insgesamt einen Umfang von ca. 70.000 Soldaten. Natürlich kann man die gesamten Kräfte nicht gleichzeitig und dauerhaft einsetzen. Denn Einsätze müssen vor- und nachbereitet werden, die Truppe hat auch noch andere Ausbildungsforderungen zu erfüllen, und nicht zuletzt kann man dem Einzelnen und seiner Familie wohl kaum einen Dauereinsatz zumuten. Daraus leitet sich im Weißbuch der Bundesregierung zur Sicherheitspolitik Deutschlands und zur Zukunft der Bundeswehr aus dem Jahr 2006 die Überlegung ab, maximal nur ein Fünftel dieser Kräfte gleichzeitig zum Einsatz zu bringen; dies sind dann 14.000.
Derzeitig wird - vor allem im Heer und in der
Streitkräftebasis – für viele Soldaten und Einheiten ein solches Verhältnis
von 1 : 4 nicht erreicht. Die Zeit zwischen zwei Einsätzen ist damit
deutlich kürzer als eigentlich erforderlich. Dies hat im Heer dazu
geführt, dass die 1. Panzerdivision, die zu den
Eingreifkräften der Bundeswehr zählt und damit einen anderen Auftrag
hat, künftig dennoch routinemäßig in die laufenden
Stabilisierungseinsätze einbezogen werden muss (zu den Auswirkungen
siehe mein
Leserbrief
in Das schwarze Barett).
An sich ist diese Situation erstaunlich; denn die Bundeswehr hat
insgesamt nur etwas mehr als die Hälfte der genannten maximalen Stärke
von 14.000 tatsächlich eingesetzt. Wie ist dieses Phänomen daher zu
erklären?
Als Generalinspekteur Schneiderhan die Idee entwickele, die Streitkräfte neu zu gliedern, nämlich in „Eingreif-, Stabilisierungs- und Unterstützungskräfte“, scheute er sich, diesen Gedanken nicht nur formal, sondern auch konzeptionell umzusetzen. Denn dann wären erhebliche Eingriffe auch bei Luftwaffe und Marine unvermeidlich gewesen – Eingriffe sowohl in die Struktur als auch in bereits gebilligte Beschaffungsvorhaben. Dies, so meinte der Generalinspekteur, sei nicht nur politisch schwer umzusetzen, sondern hätte bereits im Militärischen Führungsrat alle Inspekteure zugleich gegen ihn aufgebracht. Also begann er mit den ohne Zweifel erforderlichen Veränderungen vor allem beim Heer, während die beiden anderen Teilstreitkräfte zunächst weitgehend verschont blieben. Das reduzierte den Widerstand gegen die sog. Transformation erheblich; denn ein einzelner aufbegehrender Inspekteur ließ sich unschwer als Ewiggestriger oder Betonkopf abtun. Die langfristige Strategie des Generalinspekteurs berührt allerdings auch die beiden anderen Teilstreitkräfte erheblich.
Als zwangsläufige Folge dieses Ansatzes enthalten die Stabilisierungskräfte Elemente, die für diese Aufgabe kaum nutzbar sein werden, aber in den schmal bemessenen Eingreifkräften nicht mehr unterzubringen waren. Dazu zählen u.a. Patriot-Geschwader, U-Boote, Eurofighter und Tornados – und zwar nicht nur die in der Aufklärerversion, von denen z.Z sechs in Afghanistan eingesetzt sind, sondern auch die des Tornado-Geschwaders für nukleare Vorsorge. Dies geht zu Lasten der Landstreitkräfte.
Für die aktuellen Auslandseinsätze kann man also nur theoretisch aus einem Topf von 70.000 schöpfen; praktisch ist er erheblich kleiner. Dies führt zu hohen Belastungen und zu Ausbildungseinbußen, teilweise auch zur Überforderung bei vielen Verbänden und Einheiten des Heeres und der Streitkräftebasis. Auf den Umstand, dass sich der für einen Dauereinsatz als notwendig erachtete Faktor „Fünf“ in der neuen Struktur weder beim Heer noch bei der Streitkräftebasis durchgehend widerspiegelt, ist der Generalinspekteur frühzeitig hingewiesen worden. Er hat diesen Einwand jedoch mit dem Hinweis auf eine neue Einsatzsystematik beiseitegeschoben: Das Heer müsse sich von seinem überholten Kontingentdenken lösen, das von einer dauerhaften Präsenz über lange Zeit in vergleichbarem Umfang und vergleichbarer Zusammensetzung ausgehe. Die Bundesrepublik Deutschland werde stattdessen in den Truppenstellerkonferenzen der NATO künftig nur die Kräfte anbieten, die man zum jeweiligen Zeitpunkt ausgebildet verfügbar habe. Wenn z.B. Infanterie- oder Fernmeldekräfte durch vorausgegangene Einsätze stark beansprucht worden seien, werde man Luft- oder Seestreitkräfte anbieten. Wenn die NATO die nicht abrufe, sei das ihr Problem.
Ein solcher Ansatz war und ist aus vielerlei Gründen unrealistisch. Nicht zuletzt kann man damit auch die erforderliche Kontinuität und Nachhaltigkeit in den Einsätzen nicht erreichen. Der Generalinspekteur wollte das jedoch nicht wahrhaben. Ich hatte ihm daher vorgeschlagen, doch einmal die Probe aufs Exempel zu machen und ein U-Boot eine Zeitlang auf einem Tieflader durch Kabul fahren zu lassen. Er werde dann sehen, dass die anfängliche Aufmerksamkeit sicher hoch sein werde, mit der Gewöhnung an den Anblick dann aber vermutlich nachlasse. Zudem würden teure Nachbesserungen erforderlich, denn unsere U-Boote seien natürlich noch nicht auf den Schutz gegen Landminen optimiert.
Es kam, wie es kommen musste: Zur Überraschung des
Generalinspekteurs wollte das Bündnis tatsächlich von Deutschland
weder U-Boote für Patrouillen in Kabul noch
Patriot-Luftabwehr-Raketen zum Schutz von Feldlagern bei Beschuss mit
Mörsern und Kleinraketen, und selbst für den Einsatz nuklear zu
bestückender Tornados konnte sich niemand so recht erwärmen.
Heute ist von der beschriebenen Einsatzsystematik keine
Rede mehr. Vielmehr wird das einstmals vom Generalinspekteur so verpönte
Kontingentdenken von der Bundesrepublik inzwischen geradezu propagiert;
denn es ist ein willkommenes Argument gegen den Einsatz im umkämpften
Süden Afghanistans: Unsere Aufgabe liege im Norden des Landes; die
würden wir wahrnehmen, solange dies erforderlich sei. Es mache keinen
Sinn, das dort Erreichte in Frage zu stellen. Und darüber hinaus stünden
leider keine Kräfte zur Verfügung.
Die beschriebenen Mängel der Struktur haben neben den Belastungen der für Stabilisierungseinsätze tatsächlich geeigneten Truppenteile einen zweiten nachteiligen Effekt: Die verfehlte Rüstungsplanung wird nicht korrigiert. Vorhaben, über die die sicherheitspolitische Entwicklung längst hinweggegangen ist, belasten weiterhin den ohnehin unterbelichteten Verteidigungshaushalt in einer Weise, die wenig Spielräume für die dringend notwendigen Verbesserungen der Ausstattung unserer Bodenkräfte lässt. So halten wir noch immer an der Beschaffung von 180 Eurofightern fest. Für diese Zahl gab es einstmals gewiss gute Gründe. Heute jedoch ist keine Bedrohung zu erkennen, die einen solchen Ausstattungsumfang erforderlich macht. Wenn der Generalinspekteur seinen selbst formulierten Vorgaben zur Transformation folgen würde, hätte er sich längst dieser Problematik annehmen müssen. Im Jahr 2004 sagte er in einer Veranstaltung des Freundeskreises der Panzertruppe, bevor der anwesende General Ruwe gleich wieder seine Standardfrage nach der Notwendigkeit von 180 Eurofightern stelle, wolle er das Thema lieber selbst anschneiden. Er könne die Frage jedoch nicht aufgreifen; denn sie sei für ihn ein Tabu. Zudem müsse er berücksichtigen, dass sein 4. Stern noch nicht einmal pensionsfähig sei. Damit hatte der Generalinspekteur die Lacher auf seiner Seite, die Frage aber nicht beantwortet. Inzwischen ist sein 4. Stern seit langem pensionsfähig. Daher frage ich mich, warum er dieses Problem bis heute nicht aufgegriffen hat.
Bei der 19. Informationstagung für ehemalige Generale, die vor wenigen Wochen im Anschluss an die 41. Kommandeurtagung der Bundeswehr in Berlin stattfand, habe ich in der Aussprache erneut die falsche Zusammensetzung der Stabilisierungskräfte thematisiert. Generalinspekteur Schneiderhan hat meine Frage, ob es Überlegungen gebe, die Struktur im Lichte der inzwischen gemachten Erfahrungen anzupassen, wie dies der Grundgedanke der Transformation ja fordere, wie üblich ausweichend beantwortet. Im Kern war seine Aussage, die von mir dargestellten Defizite könne er nicht erkennen; wir bräuchten ein Höchstmaß an Flexibilität; dafür seien wir gut aufgestellt. Im übrigen sehe der Inspekteur des Heeres dies genauso wie er. Das war mir neu und dem Inspekteur des Heeres vermutlich auch.
Nun haben wir es also amtlich: Die Struktur ist vorzüglich; Mängel gibt es nur in der Vorstellungswelt illoyaler Querulanten, die mit ihren aufrührerischen Reden nur Unruhe in die Truppe bringen. Damit das aufhört, muss endlich dem Prinzip von Befehl und Gehorsam wieder Geltung verschafft werden.
Dies war in der Tat ein Thema in der 41. Kommandeurtagung. Mehr dazu unter „Befehl und Gehorsam“.