„Ein deutsches Verbrechen" - oder wie erziele ich die auflagensteigernde Aufmerksamkeit
(1. Februar 2010)
Wer glaubt, ein Journalist müsse Fakten und Bewertungen klar voneinander abgrenzen, hat die Zeichen der Zeit nicht erkannt. Wie befriedige ich meine Leser, ist die viel wichtigere Frage eines Journalisten, dessen Beiträge vor allem daran gemessen werden, ob sie die Auflage des Blattes steigern. Und wenn sich ein ganzes „Team von einem Dutzend SPIEGEL-Reportern, -Redakteuren und Rechercheuren“ mit einem Artikel beschäftigt, muss schon etwas für das Magazin dabei herauskommen. Da kann man sich nicht lange mit überholten Prinzipien des Journalismus aufhalten. Wer will denn schon eine differenzierte Darstellung lesen. Die kommt bei den Wenigsten an. Intellektuelle sehen schließlich nicht pausenlos in den Spiegel, den Durchschnittsleser muss man erreichen, ihm allzu trockene Materie ersparen und ihn mit Geschichten fesseln, die anrühren. Ihm mitzuteilen, was Menschen so alles von sich geben, ist gut, was sie in der jeweiligen Situation gedacht haben, ist besser. Der SPIEGEL war nicht nur dabei, wie die Bildzeitung immer behauptet, er kann sogar in den Gehirnen der Menschen lesen. Er weiß, worum es ihnen geht und worauf es ankommt.
Als erstes gilt es, die Aufmerksamkeit des Lesers zu wecken. Das geschieht durch eine markante Überschrift, die in zwei drei Worten einen
Sachverhalt umreißt: „Ein deutsches Verbrechen“. Reißerisch ist das nur, wenn es die Bildzeitung macht. Beim SPIEGEL ist es intellektuelle
Schärfe und ein außergewöhnliches Maß an Abstraktionsvermögen.
Rein nach juristischen Kriterien zu bewerten, ob der Vorfall, um den es hier geht, rechtmäßig war oder nicht, greift zu kurz. Man muss nicht
das Völkerrecht bemühen, um festzustellen, dass der Luftangriff in Kunduz ein Verbrechen war – nicht unbedingt im „juristischen Sinn“, aber
halt so im allgemeinen. Denn schließlich sind dabei Regeln verletzt worden, interne Verfahrensregeln zwar, aber das kann doch nicht exkulpieren.
Stellen Sie sich doch einmal vor, ein Journalist würde gegen interne Regeln verstoßen, z.B. gegen die eherne Regel, dazu beizutragen, die Auflage
zu erhöhen. Das wäre schlimmer als ein Verbrechen.
Ein einfaches Verbrechen reicht allerdings mit Blick auf den Luftangriff nicht aus, um genügend Aufmerksamkeit zu erzielen; ein „deutsches Verbrechen“ sollte es schon sein. Da stellen sich doch gleich die richtigen Assoziationen ein. Nein, direkt darf man es nicht vergleichen mit dem deutschen Verbrechen, da würde einem gleich vorgeworfen, die Maßstäbe verloren zu haben; aber subkutan wird man doch darauf anspielen dürfen. Wie in jedem guten Roman müssen im Übrigen einige Fragen offen bleiben, das erhält die Spannung. So bleibt unerwähnt, wer denn die Täter bei diesem deutschen Verbrechen sind. Ein „unglücklicher Oberst“, dem noch dazu kein Vorsatz unterstellt wird, zivile Opfer wissentlich in Kauf genommen zu haben, kann ja wohl kein „deutsches Verbrechen“ begehen. Ein wenig mehr hätte man – und hier sei eine kleine Kritik erlaubt – schon darüber gehört, wer zum Kreis der Täter oder Helfer zu zählen ist. Der berüchtigte IBuK etwa, der Herr Generalinspekteur, der schließlich für die Einsätze zuständig ist, oder gar das Parlament als Mandatsgeber? Zu einem „deutschen Verbrechen“ werden doch mehrere beigetragen haben.
Die Taliban dagegen sind ohne Zweifel unschuldig. Sie sind zwar gelegentlich etwas ungehobelt im Umgang, wie wir erfahren, aber als echte Terroristen, die es darauf anlegen, Leute in die Luft zu sprengen – manchmal Soldaten, manchmal zivile Mitbürger - , treten sie in dieser Geschichte nicht auf. Zu welchem Zweck sie die Tanklaster geraubt haben, bleibt allerdings unklar – ebenso, was mit dem zweiten Fahrer geschehen ist, der offenbar zu Tode kam. Vermutlich verstarb er an einem Herzinfarkt infolge der Aufregung. Die wahre Natur der Taliban zeigt sich, als die Tanklaster im Flussbett steckenbleiben. Ihr Anführer beschließt, das geraubte Benzin großherzig der notleidenden Dorfbevölkerung zur Verfügung zu stellen. Man kennt doch seinen Robin Hood. Die vielfach geäußerte Annahme, die Tanklaster sollten lediglich geleichtert werden, um sie dann wieder flott zu bekommen für andere Zwecke, vielleicht sogar als brennende Bomben, entbehrt jeder Grundlage. Der verantwortlichen Talibanführer hat dies dem SPIEGEL ausdrücklich bestätigt. Es handelte sich ja ohnehin lediglich um 64.000 Liter Benzin. Das langt gerade einmal für den dringendsten Sofortbedarf einer Dorfgemeinschaft. Nur 1.600 Kleinwagen lassen sich damit betanken - sofern deren Tank leer ist. Und dass die Taliban ihr Geschenk nicht einfach zurückgelassen und das Weite gesucht, sondern sich weiterhin der Gefahr eines Angriffs durch NATO-Truppen ausgesetzt haben, ehrt sie in besonderem Maße. Denn erstens mussten sie ja die Dorfbewohner vor einem solchen Angriff schützen und zweitens für Ordnung sorgen, damit jeder der Beschenkten in dem entstehenden Chaos auch wirklich seinen ihm zustehenden Anteil erhielt. Dass die Taliban dabei ihre Anhänger begünstigt hätten, ist eine böswillige Unterstellung. Denn im Gegensatz zur landestypischen Korruption sind die Taliban nicht nur rechtgläubig, sie sind streng gerechtigkeitsorientiert. Jeder erhält das, was ihm zusteht – wenngleich manchmal in Sprengstoff-Währung. Wie in jeder guten Geschichte ist die Unterscheidung zwischen Gut und Böse sehr einfach.
Das betrifft auch die „unschuldigen Zivilisten“, die bei dem Angriff zu Tode gekommen sind. Auch hierbei sind die strengen Kriterien des Rechts unangebracht. Der Umstand allein, dass sie sich aus der Beute eines von Terroristen begangenen Raubes – wahrscheinlich Raubmords – bedienen, macht sie doch nicht schuldig. 200 Liter Benzin zu stehlen, ist für einen armen Dorfbewohner so eine Art Mundraub. Man hätte zudem wissen oder zumindest ahnen müssen, dass es für halbwüchsige Jugendliche ein tolles Abenteuer ist, nachts um Eins in einem entlegenen Flussbett Sprit zu klauen. Dagegen ist man als Elternteil machtlos, wenn man es überhaupt merkt.
Nachdem man erfahren hat, wie die Dinge in Kunduz tatsächlich gelaufen sind, wendet sich die Geschichte der Heimatfront zu. Auch dort gibt es Gute und Böse. Ganz unschuldig war und ist der ehemalige Herr Generalinspekteur. Er seufzt zwar nach dem Luftangriff, nun habe man wohl die Unschuld verloren. Aber schuldig wird man ja nicht dadurch, dass einem jemand die Unschuld nimmt, obwohl man gar nicht darum gebeten hatte. Ihm kann man nun wahrlich nicht vorwerfen, mit der ganzen Angelegenheit irgendetwas zu tun zu haben. Warum er überhaupt in diesem Stück auftritt und welche Rolle dieser „kleine, aber dennoch Autorität ausstrahlende Mann“ bei Einsätzen spielt, wird allerdings nicht so recht klar. Er erscheint als eine Art neutraler Beobachter im Hintergrund.
Bis zur Lektüre des SPIEGEL-Artikels war ich der irrigen Auffassung, der Generalinspekteur trage die Verantwortung für die Einsätze und hätte die Voraussetzungen dafür schaffen müssen, dass die Truppe ihre Aufträge erfüllen kann. Dazu hätte sie ausreichend stark, angemessen ausgestattet und ausgebildet sein müssen. Sie hätte auch über Einsatzregeln verfügen sollen, die der Lage vor Ort angemessen gewesen wären. Vielleicht hätte der örtliche Führer dann ja andere Optionen als einen Luftangriff gehabt, um eine tatsächliche oder zumindest vermeintliche Bedrohung abzuwehren. Der SPIEGEL-Artikel hat mich jedoch zu der Überzeugung gebracht, dass ich mich geirrt haben muss. Sonst hätte sicherlich zumindest einer aus dem Dutzend Journalisten dieses Thema aufgegriffen – umso eher, als sich der Spiegel-Korrespondent, der mit dem ehemaligen Herrn Generalinspekteur befreundet ist, ja inzwischen im wohlverdienten Ruhestand befindet.
Auch der Umstand, dass sich der ehemalige Herr Generalinspekteur in einer Pressekonferenz zur militärischen Angemessenheit des Luftschlages unglücklich geäußert hat, kann ihm nicht angelastet werden; denn er war ja selber der Meinung, dass er das eigentlich so nicht sagen könne. Und wenn der neue Minister eine solche Bewertung aufnimmt und sich nicht vorher sämtliche Dokumente beschafft, die dafür von Relevanz sein könnten, dann ist er schließlich selbst schuld. Der Generalinspekteur und der Herr Staatssekretär sind doch keine Briefträger, und ohne Computer, die der ehemalige Herr Generalinspekteur symphatischerweise nicht mag, konnte man ohnehin leicht den Überblick über die vielen Papiere verlieren, die da herumgeisterten. Ich hatte – zugegebenermaßen – diese Vorgänge früher anders beurteilt. Ich hatte sogar geglaubt, der Generalinspekteur mit seinem großen Stab, den er sich zu diesem Zweck geschaffen hatte, sei für ein geordnetes Melde- und Berichtswesen zuständig. Der SPIEGEL-Artikel aber hat mir die Augen geöffnet. Man sollte eben nicht vorschnell urteilen. Von den hochkompetenten Fachjournalisten lässt sich jedenfalls immer noch etwas lernen, selbst wenn man über eine fast vierzigjährige Dienstzeit verfügt.
Im Epilog stellen die beteiligten Redakteure die brennenden Fragen, denen sich der Untersuchungsausschuss des Bundestages widmen müsse. Die relevanten davon könnte zwar jeder halbwegs Kundige aus dem Stegreif beantworten, aber das wird den Ausschuss nicht hindern, sich mit ihnen in den nächsten Monaten oder Jahren in extenso zu beschäftigen. Denn das eröffnet die Chance, auf den politischen Gegner einzuschlagen und einem Hoffnungsträger Steine in den Weg zu rollen. Das ist doch wichtig in einer Demokratie und erspart zugleich die überflüssige Beschäftigung mit einer erfolgversprechenden Strategie zur Stabilisierung Afghanistans. Auch für die Medien ist die Berichterstattung über diese wertvollen und amüsanten Geplänkel sicherlich ergiebiger als eine trockene Strategiedebatte, die ohnehin niemand versteht. Wir wissen also, was uns in den nächsten Monaten bevorsteht. Man kann es kaum erwarten.