Das Disziplinarverfahren
Wir leben in Deutschland glücklicherweise in einem Rechtsstaat mit international anerkannt hohem Standard. Wenn jemandem Unrecht geschieht, sollte man davon ausgehen, dass sich dies juristisch korrigieren lässt. Davon ging auch ich aus, als ich Ende Januar 2006 erfuhr, es werde mir ein schwerwiegendes Dienstvergehen – sogar mit strafrechtlicher Relevanz – vorgeworfen. Bei einem solchen Vorwurf gibt es ein festgelegtes Verfahren nach den Bestimmungen der Wehrdisziplinarordnung. Die Einleitungsbehörde, in meinem Fall der Minister, beauftragt einen Wehrdisziplinaranwalt mit Vorermittlungen. Nach dem Abschluss dieser Vorermittlungen, die ganz bestimmte Verfahrensschritte beinhalten, entscheidet die Einleitungsbehörde, ob ein gerichtliches Disziplinarverfahren eingeleitet oder ob das Verfahren eingestellt wird.
In meinem Fall beauftragte der Minister den Rechtsberater beim Inspekteur der Marine mit den Vorermittlungen. Zu Beginn einer Vernehmung wird dem Soldaten eröffnet, welche Pflichtverletzungen ihm zur Last gelegt werden. Er ist darüber zu belehren, dass er jederzeit, auch schon vor der ersten Vernehmung, einen Verteidiger befragen kann. Nach dem Abschluss der Ermittlungen ist dem Soldaten das wesentliche Ergebnis bekannt zu geben; er ist abschließend zu hören. Der Soldat kann weitere Ermittlungen beantragen. Der Wehrdisziplinaranwalt entscheidet, ob dem Antrag stattzugeben ist. Bei der abschließenden Vernehmung und etwa erforderlichen weiteren Vernehmungen des Soldaten ist dem Verteidiger die Anwesenheit zu gestatten.
In meinem Fall sah das Prozedere etwas anders aus. Kurz vor Weihnachten 2005 informierte mich der Rechtsberater beim Inspekteur der Marine, er müsse mich leider vernehmen. Da er ohnehin erst am Donnerstag jener Woche wieder verfügbar war, schlug ich ihm vor, bis dahin eine schriftliche Stellungnahme zu erstellen, er könne dann prüfen, ob das seinen Informationsbedarf abdecke. Ich war mir keiner Schuld bewusst und hielt die Vernehmung für eine reine Formsache - erforderlich, weil irgendjemandem die Angelegenheit, die ich ja in keiner Weise geheim gehalten hatte, zu Ohren gekommen war. Ich fand allerdings sehr befremdlich, dass ich von keinem meiner Vorgesetzten oder vom Leiter der Personalabteilung auf die Vernehmung angesprochen worden war.
Der Rechtsberater beim Inspekteur der Marine hatte mich nicht darüber informiert, dass mein Verhalten, schon bevor ich erstmalig dazu gehört wurde, von der Personalabteilung als ein schwerwiegendes Dienstvergehen betrachtet wurde und man deshalb dem Minister bereits empfohlen hatte, mich nach § 50 Soldatengesetz in den einstweiligen Ruhestand zu versetzen. Er hat mich auch nicht darüber belehrt, dass ich einen Anwalt befragen könne. Ich selbst hätte allerdings auch gar nicht gewusst, wozu ich einen Anwalt hätte befragen sollen. Der Sachverhalt war aus meiner Sicht völlig klar, und ich kam gar nicht auf die Idee, dass jemand darin ein Dienstvergehen sehen könnte.
In meiner Stellungnahme habe ich im Detail die Umstände der damaligen Situation beschrieben. Der Wehrdisziplinaranwalt sagte mir, die Stellungnahme decke seinen Informationsbedarf im wesentlichen ab; zwei ergänzende Fragen konnten schnell geklärt werden. Ich hatte keinen Zweifel daran, dass meine Erläuterungen dazu führen würden, die Vorermittlungen zügig einzustellen. Die Vernehmung verlief in einer freundlichen Gesprächsatmosphäre. Dennoch hatte ich mich sehr darüber geärgert, dass ich von keinem Vorgesetzten oder von der Leitung der Personalabteilung vorher darauf angesprochen worden war. Dies entsprach nicht dem normalen Umgang miteinander. Außerdem hatte ich den Eindruck, dass man diesen Vorgang nutzen wollte, um die mögliche Verwendung Generalleutnant Dieters als CINCNORTH zu torpedieren. Gerade weil ich mich mit ihm wegen unterschiedlicher Auffassungen zur Bundeswehrstruktur dienstlich ziemlich überworfen hatte, wollte ich unter allen Umständen den Anschein vermeiden, direkt oder indirekt an solchen Intrigen mitzuwirken. Deshalb habe ich mich noch am Heiligen Abend schriftlich an den Generalinspekteur gewandt ( „Weihnachtsbrief“ als pdf). Ein Nebenabdruck ging an den Adjutanten des Ministers, den ich bat, Minister Dr. Jung in geeigneter Weise darüber in Kenntnis zu setzen. Auf dieses Schreiben habe ich keinerlei Reaktion erfahren.
In Vertretung des Inspekteurs hatte ich am 6. Januar 2006 mit Dr. Wichert ein ca. einstündiges Vier-Augen-Gespräch. Der Staatssekretär erwähnte die Disziplinarangelegenheit mit keinem Wort. Ich selbst hatte auch keinerlei Absicht, ihn angesichts des vermeintlich ungleich wichtigeren Themas mit „Albernheiten“zu belästigen.
Die disziplinaren Vorermittlungen wurden nicht weitergeführt; es blieb bei der einzigen Vernehmung. Ohne die in einem Disziplinarverfahren zwingend erforderlichen Schritte der Beteiligung nach dem Soldatenbeteiligungsgesetz und der abschließenden Anhörung des Betroffenen wollte man das Verfahren im Sande verlaufen lassen und hatte stattdessen dem Minister „als Ausweg“ die Versetzung in den einstweiligen Ruhestand nach § 50 Soldatengesetz vorgeschlagen. So hat es mir Staatssekretär Dr. Wichert in einem von mir erbetenen Gespräch am 20. Januar 2006 bestätigt, nachdem ich am Vortag in Berlin gerüchteweise erfahren hatte, meine Entlassungsurkunde sei schon gedruckt. In diesem Gespräch habe ich keinen Zweifel daran gelassen, dass ich ein solches Vorgehen nicht hinnehmen würde. Ich hätte überhaupt kein Problem, mich einem Disziplinarverfahren zu stellen. Ich würde vielmehr dessen Öffentlichkeit beantragen, damit jedermann sehe, welches Spiel hier gespielt werde. Als Minister Dr. Jung dennoch beim Bundespräsidenten meine Versetzung in den einstweiligen Ruhestand verlangte, habe ich am 26. Januar 2006 – noch vor meiner Entlassung – beantragt, nach § 95 der Wehrdisziplinarordnung (pdf) ein gerichtliches Disziplinarverfahren gegen mich einzuleiten. Dabei handelt es sich um ein sog. Selbstreinigungsverfahren, mit dem der Betroffene die gerichtliche Klärung von Vorwürfen gegen sich betreiben kann.
Dieser Antrag führte dazu, dass die Vorermittlungen, die widerrechtlich seit dem 28. Dezember 2005 geruht hatten, am 23. Februar 2006 mit der Aufforderung zum Schlussgehör wieder aufgenommen wurden. Dabei stellte ich fest, dass man mir einen unzutreffenden Sachverhalt unterstellte, nämlich die komplette Meldung des WDA/SKA über die Vorkommnisse an der Bundeswehruniversität Hamburg meinem Sohn zur Lektüre überlassen zu haben. Dabei hatte ich in meiner Vernehmung erklärt: „Die Unterlagen bestanden aus einzelnen losen Blättern. Ich gab meinem Sohn die Blätter, die ihn betrafen, in meinem Beisein zum Lesen.“ Dies waren die Blätter 4 bis 6 des Vermerks, auf denen sechs Vorwürfe gegen ihn aufgelistet waren, von denen ihm die ersten vier bereits schriftlich eröffnet worden waren. Neu war für ihn, dass er beschuldigt wurde, er habe sich in einer Vorlesung kritisch zum Motivationsfaktor „Begeisterung“ geäußert und als ein Negativ-Beispiel die SA genannt. Neu war jedoch vor allem der entscheidende Vorwurf, der auch als sog. Besonderes Vorkommnis gemeldet worden war, er habe im Dezember 2004 einen Hörsaal mit den Worten „Sieg Heil, Kameraden“ betreten. Dieser unzutreffende Vorwurf wurde erst im Mai 2007 fallen gelassen.
Als die Vorermittlungen gegen mich aufgenommen wurden, bin ich in mich gegangen und habe überlegt, was ich u.U. falsch gemacht haben könnte. Als einziges fiel mir ein, dass man die Angaben über die beiden anderen genannten Soldaten hätte schwärzen können, weil sie für die in Rede stehende Angelegenheit ohne Bedeutung waren. Tatsächlich befanden sich auf dem ersten Blatt, auf dem die Vorwürfe gegen meinen Sohn begannen, noch einige Strichaufzählungen ohne Namensnennung zu einem der beiden anderen Soldaten. Der Wehrdisziplinaranwalt interpretierte meine Einlassung, man hätte die Angaben über andere schwärzen sollen, ohne weitere Rückfrage als Eingeständnis, ich hätte meinem Sohn den gesamten Vermerk zum Lesen überlassen. Wie ich heute im übrigen von meinem Anwalt, einem Experten im Datenschutzrecht, weiß, war ich in meinem Bestreben, meinen Sohn ausschließlich mit den Vorwürfen gegen ihn selbst zu befassen, weitaus zurückhaltender, als dies rechtlich geboten gewesen wäre. Denn wenn Daten in einem geschlossenen Kontext dargestellt werden, stehen jedem Betroffenen alle Daten zu, die in diesem Zusammenhang genannt wurden. Das ist auch nachvollziehbar. Denn wenn ein Bagatellverkehrssünder im Zusammenhang mit Schwerverbrechern genannt wird, dann sollte er das schon wissen, damit er sich gegen diesen Kontext wehren kann. Ich hatte mich seinerzeit sehr geärgert, dass mein Sohn mit denen, gegen die er sich beschwert hatte, in einen Topf geworfen wurde.
In meinem Schlussgehör habe ich mit allem Nachdruck und auch
nachvollziehbar den mir unterstellten falschen Sachverhalt
zurückgewiesen. Dazu habe ich weitere Beweisanträge gestellt, die jedoch
abgelehnt wurden. Wenn man ihnen gefolgt wäre, hätte das BMVg allerdings
ein größeres Problem gehabt; denn der falsche Sachverhalt war bereits
den Vorlagen an den Minister lange vor meiner Vernehmung am 22.12.2005
unterlegt worden.
Dabei hatte man sowohl die Einlassungen meines Sohnes anlässlich seiner
Vernehmung am 15.11.2005 als auch die Aussagen eines Kameraden meines
Sohnes falsch interpretiert. Dieser hatte erwähnt, mein Sohn habe ihm
ein Papier des WDA mit den vier Anschuldigungen gegen ihn gezeigt.
Daraus folgerte der Wehrdisziplinaranwalt, es habe sich um seinen
Vermerk vom 17.10.2005 gehandelt. Derjenige oder diejenigen, die
Abgeordnete des deutschen Bundestages und den Spiegel widerrechtlich
über diese Angelegenheit unterrichteten, machten daraus, mein Sohn habe
sich an der Bundeswehruniversität mit den Papieren des WDA gebrüstet.
Dabei hatte man großzügig übersehen, dass dessen Vermerk sechs Vorwürfe
enthielt. Tatsächlich hatte mein Sohn seinem Kameraden die schriftliche
Mitteilung des WDA an ihn von Mitte August 2005 gezeigt.
Als ich in meiner Vernehmung vom 22.12.2005 auf Vorhaltung des WDA auf
diese Zusammenhänge hinwies, interessierte das niemanden mehr.
Jedenfalls ging der WDA dem strittigen Sachverhalt, der für mich gar
nicht erkennbar war, weil ich davon ausging, dass meine Ausführungen
eindeutig waren, bis zur Einstellung des Verfahrens nicht nach.
Für die Personalabteilung stand ohnehin fest: Ich hatte meinem Sohn den
kompletten Vermerk überlassen. So wurde es auch dem Bundespräsidenten
als Begründung für die Anwendung des § 50 Soldatengesetz vorgetragen.
Mit Verfügung vom 11. Mai 2006 stellte der Minister das von mir
beantragte Disziplinarverfahren unter Feststellung eines Dienstvergehens
ein. Ich hatte geglaubt, dass könne er aus rechtlichen Gründen, aber
auch wegen der negativen Wirkung in der Öffentlichkeit nicht tun.
Schließlich war meine Familie öffentlich an den Pranger gestellt worden,
und mit der Einstellung des Verfahrens nahm man mir die Möglichkeit, die
Dinge rechtlich klären zu lassen.
Die Begründung für die Einstellung des Verfahrens war entlarvend: Die
vorzeitige Zurruhesetzung habe ungleich schwerwiegendere Auswirkungen
für die Betroffenen gehabt, als selbst nach Auffassung des Ministeriums
in einem Disziplinarverfahren zu erwarten gewesen wären. Das ist wohl
wahr. Der Zweck eines Selbstreinigungsverfahrens dagegen spielte in der
Begründung keine Rolle.
Die überregionale Presse brachte über dieses Vorgehen lediglich kurze Meldungen. Die Einstellung des Disziplinarverfahrens wurde zwar in der Bundeswehr mit einiger Irritation aufgenommen, erregte jedoch weder in der Öffentlichkeit größere Aufmerksamkeit, noch wurde sie vom Wehrbeauftragten des Deutschen Bundestages als bedenklich betrachtet.